"Zigeunerhäusle": Eine Chance zur Identifikation und Reflexion

Veröffentlicht am 09.10.2011 in Fraktion
 

Fraktionsvorsitzender Hans Jörg Fahrner.

Schramberg-Waldmössingen. Lange hat es gedauert, doch nun ist es geschafft: Am Sonntag, 9. Oktober 2011, wurde am "Zigeunerhäusle" die Gedenktafel enthüllt. Das Gebäude ist renoviert und soll künftig für Ausstellungen zur Heimatgeschichte genutzt werden. Hans Jörg Fahrner, der gemeinsam mit Renate Much sehr viel dazu beigetragen hat, dass das "Zigeunerhäusle" wieder genutz wird und die Gedenktafel am Sonntag, 9. Oktober, endlich enthüllt werden konnte, hat aus diesem Anlass die folgende Rede gehalten:

Sehr geehrte Frau Ortsvorsteherin Schmid,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Herzog
liebe Frau Mahlke vom Förderverein für Heimatpflege, sehr geehrter Herr Reinhardt,

wir freuen uns, dass Sie heute nach Waldmössingen gekommen sind, wir freuen uns und sind dankbar, dass Sie am Ort Ihrer Vorfahren der kleinen Feier zur Enthüllung einer Gedenktafel den musikalischen Rahmen geben. Sehr geehrter Herr Zimmermann, wir sind schon jetzt sehr gespannt, was Sie uns im Anschluss zu sagen haben.

Wir freuen uns, dass Carsten Kohlmann hier ist, ohne sein gründliches Nachforschen würde es die gewachsene Erinnerungskultur in Schramberg nicht geben, es würde auch keine Erinnerungstafel an die lange Zeit ver¬schwiegenen Verbrechen der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma geben, die man noch immer landläufig abwertend als „Zigeuner“ bezeichnet.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

„brauchen wir noch mehr Gedenktafeln?“ so fragte sich im Jahr 2000 Carsten Kohlmann in einem Vortag beim SPD-Ortsverein. Sein Referat war ein „Plädoyer zur Diskussion über die Erinnerung an die NS-Vergangenheit unserer Stadt“.

Es war auch Carsten Kohlmann der sich seit 1991 unter anderem mit der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im Raum Schramberg in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte. Eine Zwischenbilanz stellte er in einem Vortrag am 23. Jan. 1997 zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus vor. Sein Thema lautete damals: „Endstation Auschwitz – die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im Raum Schramberg in der Zeit des Nationalsozialismus“.

Die Nachforschungen von Carsten Kohlmann gab dem lange verdrängten Völkermord an 500 000 Sinti und Roma einen Namen für Menschen, Mitbürgerinnen und Mitbürger, die im Raum Schramberg gelebt haben. Es sind dies die Familien Berger, Pfisterer und Reinhardt. Die brutale Verfolgung der Familien Pfisterer und Reinhardt findet im Waldmössinger Heimatbuch von 1994 erstmals ihren Niederschlag.

In einem Beitrag von Hilde Kimmich werden einige Angaben über den Leidensweg von Franz und Katharina Reinhardt gemacht. Der Ausgrenzung und dem Verbot der Gewerbetätigkeit folgten unsägliches Leid, Krankheit und Verarmung. Sie gingen Hand in Hand mit der behördlichen Schikane, Verfolgung und der gezielten Kriminalisierung. Runderlasse, wie die des Reichführers SS mit dem Titel „Bekämpfung der Zigeunerplage“ zeigen die damals vorherrschende menschenverachtende Denkweise in aller Deutlichkeit auf. Mit dem Winkel für „Asozial“ versuchte man selbst noch in den Kzs den Sinti und Roma jegliche Achtung und Würde zu rauben.

Die von Carsten Kohlmann gefundene Karteikarte im Einwohnermeldeamt Schramberg über den Vermerk der sogenannten Festsetzung der Sinti in Heiligenbronn am 28.10.1939 gibt unter der Rubrik letzter Wohnort an: „Am 15.03.43 nach Auschwitz KZ-Lager“.

Zuvor wurden schon viele Angehörige der genannten Familien in andere KZs deportiert und unter unsäglichen Umständen gequält und schließlich zu Tod gemartert.

Warum dauerte es bis 1982, um in der Bundesrepublik Deutschland den Völkermord an Sinti und Roma anzuerkennen? Warum brauchte es bis 1994 als der damalige Bundesratspräsident Johannes Rau erstmals offiziell an den Erlass zur Deportation der Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erinnerte? Warum dauerte es also 52 Jahre, um von offizieller Stelle an den Völkermord an Sinti und Roma zu erinnern? Waren es die Vorurteile, denen Sinti und Roma bis heute ausgesetzt sind? Ist es die vielfach empfundene Fremdheit gegenüber einer anderen Lebensweise, die Missverstehen und Misstrauen hervorruft?

Nur all zu leicht sucht man die Schuld bei den Sinti und Roma selbst, nur all zu leicht werden die Vorurteile vergangener Generationen tradiert und durch die scheinbare Andersartigkeit versucht zu belegen.

Die Abschiebepraxis im heutigen Europa und von Deutschland aus, von wo aus 10 000 Roma in den Kosovo abgeschoben wurden, derer Kinder dort kaum die Chance auf Bildung und Ausbildung erhalten und damit keine Zukunftsperspektive haben, findet nur verhalten Protest. Die Kirchen und engagierte Gruppen sind dabei wohl die Ausnahmen. Erinnerung tut not, damit wir das Heute und Morgen humaner, toleranter und sozialgerechter gestalten können und dies auch wollen.

Deshalb braucht es Gedenktafeln die uns allen Anstoß sind, für Bürgerrechte einzutreten.
Deshalb braucht es Erinnerungsstätten, die eine Chance für uns alle sind, aus der Erinnerung zu lernen. Deshalb ist das Zigeunerhäusle für Schramberg und für Waldmössingen eine Chance zur Identifikation und Reflexion.

Der offene Brief von Carsten Kohlmann mit dem Titel: „Verfolgt, Vergast, Vergessen“ und die Veröffentlichung in der Schwäbischen Zeitung beförderte die Schramberger Initiative zur Erinnerung an die Verfolgung und die Vernichtung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Den namenlosen Opfern der Vernichtungslager mit ihrer Geschichte ihre Würde zurückzugeben, dies war Antrieb für die Forschungsarbeit von Carsten Kohlmann.

Im Jahr 2000 stimmte der Verwaltungsausschuss und der Ortschaftsrat einer Gedenktafel im Grundsatz zu, für die das ehemalige Wohnhaus von Franz und Katharina Reinhardt als Standort empfohlen wurde.

2001 wurde der Text der Gedenktafel im Ortschaftsrat verabschiedet.

2009 besuchte die SPD im Zuge der Kommunalwahl Waldmössingen. Günter Buchholz, Lehrer am Gymnasium Schramberg, den ich an dieser Stelle entschuldigen muss, erinnerte damals an die noch immer ausstehende Gedenktafel.

Dies war der Anstoß für die danach gebildete Arbeitsgruppe aus Förderverein zur Heimatpflege in Waldmössingen, Vertretern der Stadtverwaltung, Carsten Kohlmann und Mitgliedern der SPD-Buntspecht-Fraktionsgemeinschaft. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, die Gedenktafel anzubringen, die sichtbaren baulichen Mängel zu beseitigen,
die Schulen daran zu beteiligen und ein Konzept für eine Erinnerungsstätte zu erarbeiten. Wir sind auf gutem Wege dorthin.

Heute können wir die längst überfällige Gedenktafel am sogenannten Zigeunerhäusle anbringen. Endlich, wie wir meinen.

Meine SPD-Buntspecht-Fraktionsgemeinschaft verbindet damit die Hoffnung, dass neben den Interessen des Fördervereins zur Heimatpflege genug Raum in diesem Zigeunerhäusle ist, eine bleibende Dokumentation zu beherbergen, um nochmals Carsten Kohlmann zu zitieren: „den namenlosen Opfern der Vernichtungslager mit ihrer Geschichte ihre Würde zurückzugeben.“ Zitatende

Für Waldmössingen und für uns alle sehen wir darin eine große Chance, sich offen mit der Geschichte unserer Heimat auseinanderzusetzen, eine Chance für einen Ort zum Innehalten, von dem Humanität und Gerechtigkeit ausgehen und uns alle von Vorurteilen abhält.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 
 

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